Aktuell beherrscht Corona so ziemlich alles: Unseren Alltag, die Medien, unsere Gedanken und Gespräche und natürlich auch die Kommunalpolitik. Der Gemeinderat tagt zurzeit nicht, ein erster Beschluss zur Steuererleichterung wurde per Umlaufbeschluss gefasst, erste Präsenzsitzungen sollen erst Mitte Mai wieder stattfinden.
Grundrechte außer Kraft
Unser Leben ist nicht mehr, wie es war: Neben vielen Umstellungen, wie Homeoffice, Kurzarbeit, geschlossenen Kitas und Schulen, sind derzeit Freiheitsrechte wie das Demonstrationsrecht, das Versammlungsrecht, das Recht auf Freizügigkeit usw. eingeschränkt um das Virus in Schach zu halten. Aktuell wägen wir Grundrechte gegeneinander ab: Das Recht auf Leben gegen sämtliche Freiheitsrechte. Dieses Vorgehen ist sinnvoll und erträglich, solange es stetig hinterfragt wird und die Notwendigkeit für einzelne Maßnahmen nachgewiesen werden kann.
Kritische Nachfragen erlaubt?
Viele Bürger*innen, aber auch viele Politikverantwortliche sind durch diese außergewöhnlichen Situation tief verunsichert und deshalb dankbar über die Regelungen und Einschränkungen, die „von oben“ vorgegeben werden. Dies belegt auch der Umfragewert, nach dem 95% der Bevölkerung sich für diese harten Maßnahmen ausspricht und sich gleichzeitig noch schärfere Regelungen wünscht. Das scheint jedoch dazu zu führen, dass die sonst so mündigen Bürger*innen in ihrem politisch-gesellschaftlichen Leben, Denken und Handeln erstarren wie das Kaninchen vor der Schlange.
Weder sonst aktive Bürger*innen noch Mandatsträger*innen im Kommunalparlament erlauben sich, kritische Fragen zu denken, geschweige denn zu äußern, noch sind sie bereit zuzulassen, dass über die Probleme nachgedacht wird, die vor COVID-19 schon da waren und die sich nicht auflösen werden, wenn man sie nicht angeht.
Die Philosophie scheint zu sein: „Jetzt fokussieren wir auf das Virus und wenn das erledigt ist, wenden wir uns den anderen Themen zu. Jede und jeder, der aktuell multi-thematisch denken und handeln will, verwässert die Ernsthaftigkeit der aktuellen Krise und schwächt damit den Erfolg der erdachten Maßnahmen.“
Polizeieinsatz mit Zeppelin
Ein Beispiel für dieses Handeln ist der Polizeieinsatz mit dem Zeppelin am Osterwochenende. In der Karwoche attestierte die Polizei der Bevölkerung ein nahezu vorbildliches Verhalten. Bis auf sehr wenige Ausnahmen hielt sich die Bevölkerung an die amtlich auferlegten Verordnungen. Diese gute Ausgangsposition erlaube es, so die Polizei, auf weitergehende Kontrollmaßnahmen zu verzichten.
Kurz darauf war in der Presse zu lesen, dass der Zeppelin mit Polizeibesatzung zu Beobachtungsflügen eingesetzt und darüberhinaus durch die Zeppelin-Stiftung finanziert werde.
Allein dieser Sachverhalt wirft zwei Fragen auf:
- Wenn es keiner weiteren Maßnahmen bedarf, warum wird dann der Zeppelin für den Polizeieinsatz genutzt?
- Mit welchem Stiftungszweck ist dieser Einsatz zu rechtfertigen?
Diese beiden Fragen hätten sich alle gewählten Gemeinderäte als Kontrollorgan der Verwaltung, nicht nur stellen sollen, sondern auch stellen müssen.
Nicht alle Fraktionen denken mit
Letztlich haben nur die Grüne Fraktion sowie die Fraktion Netzwerk es gewagt, mitten in der Krise den Polizeieinsatz im Zeppelin sowie dessen Finanzierung kritisch zu hinterfragen. Es gab durchaus viel Zustimmung hierfür, gleichzeitig aber auch den zu erwartenden Shitstorm mit den immer gleichen Phrasen: „Habt ihr nichts anderes zu tun?“, „Lasst den Polizisten doch den Spaß!“, „Gibt es keine anderen Probleme?“, „Es gibt wichtigeres!“, „Lasst die Kirche im Dorf“. Das ist an sich nicht außergewöhnlich, bedenklich finde ich persönlich es nur, dass sich unter den so Kommentierenden auch ehemalige Gemeinderät*innen und die örtlichen Medien befinden – also ein Personenkreis, der per sé ein hohes Verantwortungsgefühl gegenüber den demokratischen Grundrechten besitzen sollte.
Virus vs. Politik
Es mag ja sein, dass manche der Meinung sind, dass wir in Zeiten des Virus alles „einfrieren“ können, wie das im Kinderspiel der Fall ist, wo alle beim Kommando „Freeze“ in der Bewegung erstarren und sich erst auf Ansage wieder bewegen dürfen.
Aber so ist es nicht: Auch während einer derartigen Krise, die tatsächlich vieles lahm legt und entschleunigt, darf weiter gedacht, weiter gefragt und hinterfragt werden. Und nicht nur das, es darf sogar über andere Themen gesprochen und entschieden werden, die nur am Rande oder vielleicht auch gar nichts mit der Krise zu tun haben.
Nur weil wir täglich von morgens bis abends auf allen Kanälen zu Corona informiert werden, ändert sich nichts an Problemlagen wie global z.B. den unmenschlichen Bedingungen in den Flüchtlingslagern in Griechenland, der immer noch ungelösten Situation der Rettungsboote im Mittelmeer, dem Klimawandel und der drohenden Dürre in diesem dritten Sommer infolge. Auf kommunaler Ebene sind es Themen wie die Schaffung von Wohnraum, Klimamaßnahmen in der Stadt, Verbesserung der Bedingungen für Menschen in Armut und prekären Lebenssituationen, Ausweitung der Kinder- und Jugendarbeit als Basis einer gesunden Demokratie sowie die Sicherung des Bürgerschaftlichen Engagements in Zeiten der Krise und danach. Sicher könnte hier noch einiges mehr aufgelistet werden.
Politik muss auch in Krisenzeiten handlungsfähig sein und handeln. Dazu gehört nachdenken, überdenken, fragen und hinterfragen. Nur so können wir sicherstellen, dass es eine lebenswerte Zukunft nach der Krise gibt.
Es gibt Wichtigeres?
Wenn man so will, gibt es immer Wichtigeres. Während der Gemeinderat hier über die Essensqualität an den Häfler Schulen diskutiert, könnte jemand anderes sagen: „Es gibt doch echt wichtigeres – anderswo verhungern Menschen und ihr redet über die Qualität von Essen.“ Oder während hier über den Bau eines neuen Landratsamtes beraten wird, könnte jemand sagen: „Wäre es nicht sinnvoller und wichtiger über die Schaffung von Wohnraum zu sprechen, anstatt über den Bau neuer Verwaltungsräume?“ Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig lang fortsetzen. Der Fachbegriff für eine solche Argumentationsstrategie nennt sich „Derailing“, kommt aus dem Englischen und bedeutet soviel wie „Entgleisen“. Diejenigen, die diese Strategie mit den oben genannten Phrasen anwenden, tun dies, um vom eigentlichen Thema abzulenken. Warum darüber ließe sich ebenfalls lang spekulieren. Vielleicht, weil sie sich beim Nicht-Denken ertappt fühlen, vielleicht, weil sie noch im „Freeze“ sind und auf den Weckruf warten und vielleicht auch, weil sie derzeit nicht im Austausch sind und sich somit keine Meinung bilden konnten. Aber wie gesagt, das sind alles nur Spekulationen.
Einsatz im Rahmen der Zuständigkeit
Ich setze mich als Gemeinderätin für die Dinge ein, die in meinem Zuständigkeitsbereich liegen.
So habe ich z.B. keinen Einfluss darauf, ob Bauarbeiter während ihrer Arbeit den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestabstand einhalten (falls diese Regelung für diese Berufsgruppe überhaupt gilt). Dagegen sehe ich sehr wohl eine Zuständigkeit für die Verwendung städtischer oder Stiftungs-Gelder. Auf die bundesweiten Absprachen zur weiteren Schließung der Kitas- und Grundschulen habe ich keinen Einfluss, aber sehr wohl auf das weitere Verfahren zum Umgang mit den Kita-Gebühren für betroffene Eltern. Ich denke und handle also im Rahmen meiner Zuständigkeiten, dafür bin ich gewählt. Wenn andere da ein anderes Verständnis haben, ist das für mich okay – für die Diskussion bin ich – wie immer – offen!