Zum Thema ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr) oder einfacher: zum Bus – hat jede und jeder eine Meinung. Viele finden die Idee des „kostenlosen“ Busfahrens zwar ganz attraktiv, haben aber auch so ihre Bedenken – berechtigterweise. Lässt sich sowas seriös finanzieren? Was bringt das überhaupt? Kriegt man damit wirklich CO2 Verursacher (Autofahrer) zum Umsteigen oder fängt man mit dem Angebot ausschließlich umweltfreundliche Radfahrer und Fußgänger, die mit dem Umstieg auf den Bus ökologisch eher einen Schritt zurückgehen würden? Kann man mit dem Geld nicht noch etwas sinnvolleres tun, z.B. das letzte Kindergartenjahr beitragsfrei gestalten? Oder wie die Spießgesellen in der heutigen Ausgabe der Schwäbischen Zeitung meinen: Preis passt, dafür eine bessere Taktung und möglichst keine Zeitverluste gegenüber dem Auto?
Hasselt, Lemgo, Aubagne, Graz, London, Wien, Tübingen, Berlin – Friedrichshafen?
Überall haben Kommunen die gleichen Probleme: Zuviele Autos in den Innenstädten, Staus, zu hohe CO2 und Feinstaubbelastungen, geringe Lebens- und Aufenthaltsqualittät im Innenstadtbereich, Parkplatzprobleme und vieles mehr. Und an vielen Orten wird oder wurde nach Lösungen gesucht, manche haben sie schon für sich gefunden. In Aubagne (Frankreich) übernehmen die Arbeitgeber zu 100% die Fahrkosten des ÖPNV für ihre Mitarbeiter. Hasselt (Belgien) hatte den Busverkehr zum Nulltarif, konnte dem Ansturm und den daraus resultierenden Kosten nicht standhalten und befördert seit dem aber dennoch deutlich günstiger als vor der Kostenbefreiung. In Wien bezahlt man für ein Jahresticket für den gesamten „Öffi“ 365 €, was also einem Euro pro Tag entspricht. In London wurde die City-Maut eingeführt. In Lemgo (Westfalen) wurden die Fahrpreise deutlich reduziert und offensiv für den ÖPNV geworben. In Graz wird immer dann auf das kostenlose Busfahren umgestellt, wenn die Feinstaubbelastung zu hoch wird. In Tübingen will OB Palmer noch vor der Sommerpause eine Entscheidung für einen ticketlosen ÖPNV und in Berlin denkt man über das Bürgerticket nach. Wir sind also nicht allein und Friedrichshafen befindet sich mit dem Überdenken von Motorisiertem Individualverkehr (MIV) und ÖPNV durchaus in guter Gesellschaft.
Verkehrsminister Hermann hat – entsprechend den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag – eine Untersuchung zur Drittnutzerfinanzierung (Finanzierung durch Autofahrer wie in London, durch Arbeitgeber wie in Aubagne oder durch Steuern wie in Wien) in Auftrag gegeben. Leider wird 2016 wohl erst gewählt werden bevor sich in Sachen Drittnutzerfinanzierung irgendetwas tut.
European Energy Award (eea) 2012 in Gold, eine Bürgerbroschüre und Handlungsziele bis 2020
Schon seit langem (seit 1992 Mitglied im Klima-Bündnis der europäischen Städte, seit 2012 mit dem eea ausgezeichnet) beschäftigen sich Stadtverwaltung und Gemeinderat mit Fragen der Nachhaltigkeit – ein wichtiger Bereich in diesem Zusammenhang ist die Mobilität. „Jetzt für die Zukunft“ – so das Motto von 2012, als die Stadt als eine von fünf Kommunen in Baden-Württemberg mit dem European Energy Award in gold ausgezeichnet wurde. Seitdem wurde einiges aus den sechs Kategorien Entwicklungsplanung & Raumordnung, Kommunale Gebäude & Anlagen, Versorgung & Entsorgung, Mobilität, Interne Organisation und Kommunikation & Kooperation tatsächlich auch in die Tat umgesetzt oder zumindest weiterverfolgt. Als der Zielerreichungsgrad 2012 vom eea ausgewertet wurde, kam es zu einer sehr positiven Bilanz in nahezu allen Handlungsfeldern (siehe Bild).
Aber wie sieht es heute aus?
Das Anforderungsprofil des eea wird stetig angehoben, ein Stehenbleiben wird nicht hornoriert.
Zurück zum Thema Mobilität: Welche Ziele hatte Friedrichshafen sich damals für das Jahr 2020 im Bereich Mobilität gesetzt?
Unter Punkt 4 – Mobilität steht in der Broschüre unter anderem zu lesen:
Was bringt der ticketlose ÖPNV?
Erst mal natürlich ein höheres Fahrgastaufkommen. Kürzere Aufenthaltszeiten an den Haltestellen (kein Fahrkartenverkauf mehr), bessere Fahrplaneinhaltung. Wegfall von Kontrollen – unerlaubtes Fahren ohne gültigen Fahrschein gibt es nicht mehr. Stellenschaffungen bei Busfahrern. Keine stehengelassenen Schulkinder mehr, die ihre Busfahrkarte vergessen / verloren haben. Im besten Fall: Weniger Staus, weniger Lärm und Reduzieruung von CO2 Ausstoß und Feinstaub.
Wie kann es gelingen?
Der Wille muss da sein. Es muss klar sein, dass sich die Ziele der TWF in Bezug auf die Rentabilität bei der Bewirtschaftung der Parkhäuser und beim Betrieb des ÖPNV verändern müssen. So lange hier erwartet wird, dass z.B. die Parkhäuser bei kundenfreundlichen Preisen kostendeckend laufen sollen, kann die Verminderung des motorisierten Individualverkehrs in der Innenstadt kein echtes Ziel der TWF sein.
Da die TWF aber auch Betreiber des ÖPNV sind und auch hier ein möglichst hoher Deckungsgrad erzielt werden soll, ist derzeit kaum zu erwarten, dass der ÖPNV von dieser Seite eine außerordentliche Förderung erhält. Hier sind die Politik und die Bürgerschaft gefragt : Was wollen wir? Welche Ziele verfolgen wir langfristig? Wie wollen wir Leben? Was verstehen wir unter Nachhaltigkeit?
Die Radverkehrswege und Radabstellplätze müssen weiter ausgebaut und damit attraktiver werden. Der MIV muss deutlich mehr an den durch ihn entstehenden Kosten z.B. bei der Parkraumbereitstellung und ‑bewirtschaftung beteiligt werden. Das Auto darf nur noch Platz 4 auf der Attraktivitätsskala der Mobilität belegen.
Was ist zu tun?
Quellen:
Beteiligungsbericht der Stadt Friedrichshafen 2013